Der Staub von vier Uhr früh
Wir begrüßen unsere neue Artist-in-Residence, Jovana Blagojević (*1995, Smederevo), die für 5 Wochen bei AIR InSILo bleiben wird. Jovana Blagojević hat ein Studium der Bildenden Kunst absolviert und beschäftigt sich in letzter Zeit mit performativer und aktivistischer Praxis. Sie arbeitet mit einer Vielzahl von Medien wie Zeichnung und Malerei, Graffiti, Video und Video-/Live-Performances. Jovana gibt Zeichen- und Malkurse für Kinder und Erwachsene und führt gelegentlich Wandmalereiprojekte aus. Sie ist auch in Umweltprojekten aktiv und arbeitet als Aktivistin mit dem Team 1+1=3 zusammen.
Jovanas Projekt für AIR InSILo befasst sich mit der Frage nach den Wertvorstellungen von Arbeit. Wann ist Arbeit wertvoll und sinnvoll, und wann wird sie zu sinnloser, überschießender und ausgeklügelter Sklaverei? Darüber hinaus erforscht sie die Tugenden der Muße, die wir als Freizeit interpretieren - eine (Aus-)Zeit, die dem Leben Qualität verleihen soll - und in der wir die Gründe und Motivationen, warum wir was tun, neu bewerten können. Während ihres Aufenthalts bei AIR InSILo wird Jovana ihre Forschungen zu den "Kreuzwörtern" fortsetzen. Darunter versteht sie die Schnittstellen zwischen den Gedanken und Stehsätzen rund um Arbeit, mit denen wir aufgewachsen sind und die unsere Wertvorstellungen von Arbeit und unser Bedürfnis, etwas zu schaffen, prägen, und denjenigen, die uns einschränken und in einem sinnlosen Workaholic-Zustand halten. Die Recherche dazu wird einerseits durch Lektüre und andererseits durch Interviews mit hier ansässigen Menschen zu diesem Thema durchgeführt. Die Ergebnisse werden dann in Form eines "Kreuzworträtsels" dargestellt - in Form einer physischen Fahne mit ausgewählten und aufgenähten Schlüsselwörtern und Begriffen zur Arbeit.
*When does (art-)work work?
Emirhan Akin reiste zu seiner Residency bei AIR InSILo mit einer bestimmten Idee im Kopf. Doch als er am 7. Oktober 2023 in Österreich ankam, war es nicht mehr möglich, über künstlerische Praxis in gewohnter Weise nachzudenken. Gründe dafür zu finden, der künstlerischen Arbeit weiter nachzugehen, schien unangebracht, angesichts der Katastrophe, die sich vor den Augen aller abspielte.
Während seiner Zeit in Hollabrunn gelangen Emirhan mehrere Interventionen. Ausgehend vom vorgegebenen Thema der Arbeit, nämlich der Arbeit der Pflege und Instandhaltung (etwas womit Emirhan seinen Lebensunterhalt in Amsterdam bestreitet), formulierte er das alltägliche Putzen neu und wandelte es in eine meditative Praxis um; als eine Möglichkeit, die dunkelsten Gedanken und Zustände, und vor allem die verheerende Einsamkeit zu verarbeiten, die den Geist erfüllen, wenn man Zeuge zerstörter Städte wird und Ruinen mit darunter begrabenen Leichen sieht. Wenn es keine Energie mehr zu geben scheint, die Trümmer der Zerstörung und das eigene Entsetzen zu sortieren, hat man das Gefühl, dass es nie wieder möglich sein wird, irgendetwas in Ordnung zu bringen. Selbst wenn man die Schutthaufen aufräumt und aus dem Blickfeld entfernt, kann man sie nicht aus dem Gedächtnis löschen.
Emirhan verbrachte seine Tage auf dem Dachboden über der Werkstatt, wo er den Raum unterteilte, und buchstäblich schmutzig als schmutzig und sauber als sauber kennzeichnete: Er sammelte den Inhalt des Staubsaugers, womit er den Staub, der sich über Jahrzehnte in diesem ungenutzten Raum angesammelt hatte, entfernte, in einer großen weißen Schüssel und richtete einen sterilen Arbeitsbereich für die anderen Künstler:innen ein, die in Zukunft in der Residency ankommen werden.
Aber hier sind die Dinge nicht so einfach, wie sie zunächst erscheinen. In einer subtilen Geste "kontaminiert" Emirhan (ich möchte den Begriff hier in Anführungszeichen setzen und ihn frei nach Mary Douglas verwenden) den Raum der Reinheit. Um dies zu erkennen, muss man sich an den weißen Schreibtisch setzen und die bereits verunreigigte, unter Glas konservierte, heilige Oberfläche sehen. Ich kann diese Botschaft nur als verklausulierte abstrakte Hieroglyphe lesen: Wer Zeuge einer humanitären Katastrophe wird, hört auf, unschuldig zu sein, und kann nicht mit einer weißen Weste weiterarbeiten.
Eine Umfrage: Nicht-Äußerungen
Die letzen beiden Jahre haben uns gezwungen, einen genaueren Blick auf die Freiheit der Kunst zu werfen und zu erkennen, dass sie nicht nur in Ländern mit autoritären Regimen, sondern auch in Ländern mit freien demokratischen Wahlen bedroht ist. Die Umfrage soll diesen fragilen Moment einfangen, den Ist-Zustand des künstlerischen Umfeld abbilden und als kritische Grundlage für unseren neuen Open Call "Non-Utterance" ('Nicht-Äußerungen') dienen, der sich mit Zensur und Selbstzensur in der Kunst beschäftigt.
In der Regel sind es die Werke, die totalitär unterdrückt wurden, auf die die kritische Forschung zuerst aufmerksam wird. Gleichzeitig wissen wir wenig über die Rahmenbedingungen, unter denen Künstler:innen weiterhin Kunst machen, über die Strategien, die sie anwenden, um sich zu schützen und zu vermeiden, dass ihr Werk unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zieht, und über den Faktor der Selbstzensur, der unweigerlich mit den Absichten des Autors zusammenprallen muss. Wir beobachten, wie sich der künstlerische Ausdruck, der unter dem Druck der Zensur oder der Selbstzensur leidet, in vielerlei Hinsicht verändert: Das, worüber direkt zu sprechen gefährlich geworden ist, beginnt indirekt zu kommuniziern, sich zu verstellen oder thematisiert sich durch seine eigene Abwesenheit. Die Künstler:innen wenden neue Strategien an, um sich zu schützen, aber einige von ihnen wagen es auch nach (genötigter oder freiwilliger) Emigration nicht, sich offen oder direkt zu äußern. Dies hat ein neues und bislang unerforschtes System der Bilder, des Nicht-Erscheinens, der Nicht-Äußerung und des Nicht-Ausdrückens hervorgebracht, das Gegenstand unseres Interesses sein wird. Die einzige Möglichkeit, diese Prozesse zu untersuchen, besteht darin, direkt mit den betroffenen Künstler:innen zu arbeiten, weshalb wir unsere sorgfältige Arbeit mit dieser neuen Umfrage beginnen möchten.