“ÁNOMOS, oder das gesetzlose Land”
01.10.2022
„ÁNOMOS oder das gesetzlose Land“ ist ein multidisziplinäres Forschungsprojekt, mitten in einem typischen landwirtschaftlichen Gebiet Mitteleuropas, das sich die ökologischen Auswirkungen des Zerfalls des Nomos der Erde vorstellt. Von einem kunstwissenschaftlichen Ansatz augehend und unter Verwendung verschiedener technologischer Werkzeuge (orthometrische Höhe, Klimamessung, taxonomische Identifizierung) wird das Projekt das Land um Hollabrunn als Territorium ohne sesshafte menschliche Gemeinschaften imaginieren.
In den letzten fünf Jahren konzentrierte sich meine künstlerische Praxis auf Ethnobiologie und Arbeit mit Wildtiere, hauptsächlich in deren natürlichen Umgebungen. Das führte mich zu einem Nachdenken über „Dislokation“ (oder "Verdrängung") als gegenkulturelle und antikoloniale Praxis. Im Nordwesten Mexikos und im Südwesten der USA, wo ich meine Arbeiten entwickelt habe, wurden indigene Stämme beider Nationalstaaten entlang der Grenze gezwungen, ihre nomadische Lebensweise aufzugeben. Dies nur, um das Recht zu etablieren, Land als Privateigentum in Besitz nehmen zu können – im Gegensatz zu der gemeinsamen aridoamerikanischen Vorstellung, dass das Land nur Eigentümer seiner selbst sein kann. Dieser Schritt hat einen tiefen Fußabdruck auf dem Territorium hinterlassen un zu einer Verwandlung wilder unberührter Umgebung in landwirtschaftliche und industrielle Gebiete geführt. All das veranlasste mich, über die Landwirtschaft nachzudenken – die Quelle der Sesshaftigkeit – und über den Prozess, durch den menschliche Gesellschaften sich Territorien aneignen und transformieren. Um diese Transformation zu rechtfertigen, etablieren sie ein „Gesetz“, über die Umwelt zu herrschen. In Der Nomos der Erde (1950) beschreibt Carl Schmitt den globalen Prozess der Aneignung von Land als eurozentrisch. In Anlehnung an Jared Diamonds Theorie, dass geografische Bedingungen – fruchtbare Böden, Verfügbarkeit von Ressourcen und natürliche Barrieren – die Entwicklung von expansiven und konkurrierenden Nationen in Europa förderten, kann man leicht argumentieren, dass dieselben Bedingungen, die zur Stärkung und Konsolidierung des 'Nomos der Erde' beigetragen haben, auch die Verteilung der Ländereien und den militärischen Machtstreit zwischen den Ländern Europas gefördert haben, noch vor ihrer Expansion nach Übersee.

Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass das ius gentium nicht mit einem „Naturrecht“ gleichzusetzen ist. Trotzdem rechtfertigte seine Etablierung als universelles Konzept die Eroberung von Territorien, menschlichen und nichtmenschlichen Kollektiven unter kolonialen Bedingungen, die die Welt „unwild“ machen. „Ánomos“ – auf Griechisch „ohne Gesetz“ oder „gesetzlos“ – wurde von Schmitt beim Apostel Paulus gefunden. Für den christlichen Glauben wäre Ánomos die Antichristus-Regel, die das Erscheinen des Reichs (katechon) verhindern würde. Dies impliziert einen Imperativ der „Absonderung der Nomaden“, deren Auswirkungen man deutlich in den unterschiedlichen Strategien der (christlichen) Kolonialmächte beobachten konnte: um die Mobilität der verschiedenen nomadischen und halbnomadischen Indigenen einzuschränken etablierte man u.a. Missionen und Reservate; deren Namen im Wesentlichen denjenigen ähneln, die wir unseren heutigen Naturschutzgebieten gegeben haben. All diese Maßnahmen hatten ökologische Konsequenzen: die intensive landwirtschafliche Nutzung des größten Teils des Landes hat die Umwelt global verändert und langfristig zur ökologischen Katastrophe geführt, in der wir uns nun befinden. Die Frage ist also, ob wir in der Lage wären, einen umgekehrten Prozess, der auf einem alternativen Code basiert, zu denken: einen „Ánomos der Erde“, in dem Land, Meer und Luft von der menschlichen Vorherrschaft befreit würden; was in keiner Weise unsere Aufgabe der Welt bedeutet, sondern vielleicht nur die Assimilation einer nomadischen Ethik. Dies hat tiefe konzeptionelle Folgen: der Verzicht einer Polis als räumlicher Begriff kann die Aufgabe von 'Politik' implizieren, was nicht die Aufgabe der 'gemeinschaftlichen Erfahrung' oder irgendwelcher Überlegungsprozesse bedeutet, sondern des sesshaften Ethos. Auch der Verzicht auf den Oikos kann eine Reformulierung der Ökologie implizieren, insoweit, dass wir nicht mehr über ein festes 'Zuhause' sprechen werden können, sondern über Räume des 'Werdens'.