"Clotho" von Anastazja Palczukiewicz
Mit dem Fokus auf Identitätsfragen wendet sich die Künstlerin der Geschichte und dem Schicksal des westlichen Weißrusslands zu, dessen Territorium in verschiedenen historischen Perioden Teil verschiedener staatlicher Einheiten war: des Russischen Reiches, Polens und der UdSSR.
Diese Vielfalt an politischen und kulturellen Kontexten hat tiefe Spuren in der Identität der Bewohner:innen des Landes hinterlassen. Die Künstlerin entwickelt ihre spekulative Sicht auf Identität und Heimat, indem sie historische Archive und Erinnerungen von Menschen erforscht, deren Leben mit dem Schicksal des westlichen Weißrusslands verbunden war, deren Identität jedoch unausgesprochen bleibt und aus verschiedenen sozialen, politischen oder kulturellen Gründen nicht zum Ausdruck kommt. Wo das Leben im Kontext eines Zusammenpralls von Kulturen, einer Vermischung von Traditionen, Familiengeschichten und sozialen Erfahrungen zu inneren Widersprüchen und der Unfähigkeit beiträgt, sich über die Zugehörigkeit zu etwas Offensichtlichem und Unveränderlichem zu definieren.
Betrachtet man die Konflikte, die in der modernen Welt entstehen (Ukraine und der postsowjetische Raum, Abchasien, Ossetien, Artsakh, Transnistrien), so wird deutlich, dass die Themen Kolonialismus und nationale Grenzen im Widerspruch zu den realen Grenzen des Lebens auf der Erde stehen und nicht mit ihnen übereinstimmen. Daher sind sie unweigerlich zu Zusammenstößen und Konflikten verdammt. Die Staatenbildung erfolgt dort in solchen Formaten, dass der beste individuelle Weg vielleicht ein „Exit“ ist, der ständig fließend ist und eine so genannte liquide Identität formuliert.
In Anlehnung an die Ideen des Soziologen Zygmunt Bauman zur „liquiden Identität“ betrachtet die Künstlerin das Konzept der Heimat und die Unfähigkeit, sie zu finden, nicht als Tragödie oder Hindernis, sondern als Vorteil. Auf diese Weise entledigen wir uns der Einbindung in den nationalen Rahmen, der a priori auf den Ideen des rechten Diskurses beruht. Hier stellt sich die Frage: Inwieweit ist das Finden einer Heimat das ultimative Ziel der Selbstidentifikation, oder ist dieser Ort, nach dem die Menschen suchen, unerreichbar?
Das Projekt wird als Installation präsentiert, wobei eines der Hauptobjekte der Kupferstich Lida, Kirche. (1918) des deutschen Militärkünstlers Paul Paeschke ist. Der zweite Teil der Installation besteht aus einer Reihe von Skulpturen, in denen die Künstlerin sich auf die Arbeit mit Metall als schmelz- und fügefähigem Material konzentriert. Die Nahtstruktur wird zur Grundlage der skulpturalen Formen und stellt eine Verbindungslinie zwischen den Rändern und dem ungefüllten Raum dar, wobei das Intervall der gefüllten Lücke zur Narbenlinie wird und als Artefakt existiert, eine Folge der Wirkung der Kraft, die die Lücke, die Trennung, geschaffen hat.