Shadow Index
02.09.2025

Was entgeht dem Archiv? Was bleibt an seinen Rändern zurück, was wird falsch gelesen oder gar nicht erst registriert? Mein Projekt geht von der Überzeugung aus, dass Archive keine neutralen Speicherorte der Erinnerung sind. Sie sind aktive Strukturen der Auswahl, Auslassung und Kontrolle. Sie prägen, was in Erinnerung bleibt und wie das Erinnern gesteuert wird. Das Archiv ist nicht nur ein Behälter des kollektiven Gedächtnisses, sondern ein komplexer, aufgeladener Ort der Macht und Auslöschung.

Inspiriert von Jacques Derridas Archive Fever und Alain Resnais’ Film All the World’s Memory lädt das Projekt dazu ein, sich mit einem „Schattenindex“ auseinanderzusetzen: Materialien, die sich dominanten Archivstrukturen widersetzen, aus ihnen herausfallen oder sie untergraben.
Derrida beschreibt das Archiv als einen „toponomologischen“ Raum, der sowohl durch den Ort (topos) als auch durch das Gesetz (nomos) definiert und durch Ausgrenzung strukturiert ist. Resnais’ Film präsentiert die Bibliothèque Nationale als einen riesigen und schönen Mechanismus der Erinnerungsproduktion – einen bürokratischen Organismus, in dem Wissen abstrahiert, eingefroren und unzugänglich wird. Er ruft ein Unbehagen hervor: das Gefühl, dass der Drang zur Aufzeichnung uns von der Bedeutung entfernen könnte. Michael Rothbergs Theorie des multidirektionalen Gedächtnisses verstärkt diese Idee und präsentiert Erinnerung als dynamisch, verhandelt und relational. Zusammen ergeben sie eine kuratorische Praxis, die von partieller Sichtbarkeit, Schweigen und Widerstand gegen Kategorisierung geprägt ist. Dies führt zur Suche nach anderen Wegen, Erinnerung zu bewahren, die aus dem Unbehagen gegenüber Systemen entsteht, die nach Kontrolle, Klarheit und Dauer streben.
Meine Beschäftigung mit Archiven beginnt mit dem Wunsch, den Ort zu verstehen, aus dem ich stamme – Niederschlesien, eine Region, die vor dem Zweiten Weltkrieg zu Deutschland gehörte. Das Leben hier bedeutet, ständig von Spuren der Vertreibung, der Abwesenheit und vielschichtiger Geschichte umgeben zu sein. Es ist auch tief in meiner Kindheit verwurzelt: Das emotionale Zentrum meiner Kindheit war das Haus meiner Großeltern, das einst einer deutschen Familie gehörte. Die Gegenstände, Gerüche und Texturen dieses Raumes – und die stille, gespenstische Spannung, die er ausstrahlte – prägten mein frühes Geschichts- und Erinnerungsvermögen. Seitdem arbeite ich mit institutionellen und volkstümlichen Archiven sowie mit der Erinnerung an Landschaften.



Illustration: Alain Resnais
Ich stelle mir vor, dass die archivarische Erforschung in Hollabrunn entlang mehrerer miteinander verflochtener Stränge erfolgen könnte. Einer würde sich auf materielle und geologische Spuren konzentrieren. Eine dieser lokalen Strukturen ist die Habaner Keramiktradition, die eine taktile, nonverbale Form der Erinnerung bietet. Die handbemalten Gefäße erzählen von Vertreibung, Widerstandsfähigkeit und kultureller Weitergabe durch Handwerk. Ein weiterer Strang sind die natürlichen Amethystvorkommen in der Region. Diese Formationen lassen auf ein tiefes, nicht-menschliches Archiv schließen – leuchtend und beständig. Ihre Erinnerung ist mineralisch, nicht narrativ. Neben den Steinen zeigen Führer und Handbücher über Edelmineralien, wie Wissen geformt und ästhetisiert wird. Lokale Archive – kommunale Dokumente, Karten und persönliche Sammlungen – fügen eine weitere Ebene hinzu. Diese Fragmente öffentlicher und privater Erinnerung bilden sich überschneidende und widersprüchliche Erzählungen, die sich einer Kohärenz entziehen. Volksmärchen und informelles Wissen, das durch mündliche Überlieferung weitergegeben wird, bieten eine weitere Art von Archivlogik – eine, die sich im Laufe der Zeit in Form und Bedeutung verändert. Und schließlich bietet der Ernstbrunner Wald, einer der größten Eichenwälder Mitteleuropas, nicht nur ökologische Dichte, sondern auch zeitliche Komplexität. Er ist keine Kulisse, sondern ein aktiver materieller Zeuge – voller Geschichten, Emotionen, Formen des Verfalls und der Widerstandsfähigkeit. Wälder wie der Ernstbrunner Wald tragen Erinnerungen in einer übermenschlichen Dimension: an verschwundene Lebensformen, frühere Ökosysteme und unterbrochene Zeitlinien. Sie bewahren gespenstische Spuren dessen, was nicht mehr lebt, aber dennoch erhalten geblieben ist. Für mich ist nicht-menschliches Archivieren eine Möglichkeit, über anthropozentrische Wissenssysteme hinauszudenken und zu fragen, was es bedeutet, Zeuge zu sein, zu ertragen und Erinnerung außerhalb der Sprache zu tragen.
Während der sieben Wochen meiner Residency werde ich mit diesen verschiedenen Registern der Erinnerung arbeiten – materiell, ökologisch, institutionell und informell –, um einen kuratorischen Rahmen zu gestalten und die Idee einer zukünftigen offenen Ausschreibung zu entwickeln. Dies wird kein im Voraus festgelegtes Thema sein, sondern sich aus dem Ort selbst heraus entwickeln, durch Aufmerksamkeit, Forschung und die Entfaltung der dort verbrachten Zeit. Der Shadow Index ist kein festes Thema. Es ist eine sich entwickelnde Frage: Wie arbeiten wir mit dem, was sich der Erfassung widersetzt, und welche Formen des Wissens entstehen an seiner Stelle?